Jorn wurde von dem uralten Baum angezogen wie ein Nagel von einem starken Magneten. Er versuchte, immer im Schutz der Schatten der wildwuchernden Büsche zu bleiben, während er durch den dunklen, nächtlich stillen Park schlich. Durch die ausgelatschten, gerissenen Sohlen seiner Sneakers spürte er jeden Kiesel in dem steinigen, ausgetrocknetem Bachbett, dem er folgte. Jorn achtete darauf, auf keine leere Dose oder anderen Müll zu treten. Er wusste, dass er keinen Lärm machen durfte. Der alte Stadtpark war in der Nacht das Revier von Raubtieren, kleinen, harmlosen vierbeinigen und großen, gefährlichen, die wie er auf zwei Beinen gingen.
Linkerhand passierte er endlich den alten, defekten Springbrunnen mit der Schwanenfigur, der jemand den Kopf abgeschlagen hatte. Schließlich kletterte er aus dem Graben und betrat den geteerten, rissigen Fußweg. Jorn sah sich nach allen Seiten um und lauschte einen Moment. Irgendwo, weiter weg, hörte er jemanden Schreien. Eine andere Stimme lachte daraufhin laut. Der Junge beschloss, dass ihn das nichts anging, und huschte geduckt über die steinerne Brücke auf den kreisrunden Platz.
Als Jorn sein Ziel erreicht hatte, blickte er mit offenem Mund zu der gewaltigen Kastanie auf. Der Baum wuchs genau in der Mitte des Rondells. Eine Laterne mit einer einzelnen, kränklich summenden LED warf einen gelben Lichtkreis auf das uralte, noch aus der Jahrtausendwende stammende Pflaster. Der schwache Schein vertiefte die ringsum lauernden Schatten zu einem tintentiefen Schwarz.
Lächelnd betrachtete Jorn für einen Moment den schlafenden Baum, dann räusperte er sich laut und näherte sich langsam der riesigen Kastanie.
„Hallo“, sagte er leise. „Ich bin’s.“ Er stieg auf die alte, kreisrunde Holzbank, die man um den Baum herum gebaut hatte, breitete seine Arme aus und schmiegte sich an die rissige, raue Rinde. Er lächelte, als er sein Ohr gegen den Stamm drückte und das alte, aber immer noch kräftige Herz des Baumes schlagen hörte. Jorn hatte schon viele Bäume umarmt, auf seinen rastlosen Wanderungen durch die Stadt. Wann immer er hinaus kam, machte er sich auf die Suche nach freundlichen Bäumen, mit denen er reden konnte. Viele gab es nicht mehr, in der sterbenden Stadt. Und die meisten, die hier noch ihr karges Leben fristeten, wollten mit einem ‚Schädling‘ nichts zu tun haben. So nannten die grantigen, alten Bäume die Menschen. Jorn ärgerte sich nicht darüber. Für sie, die Jahrzehnte an einem Ort lebten, war alles, was sich schneller als die Sonne am Himmel bewegte, ein ‚Schädling‘. Und auf die Menschen, die schlimmsten aller Schädlinge, traf die Bezeichnung doppelt und dreifach zu.
Jorn wäre gern ein Baum gewesen, eine riesige, kraftstrotzende Eiche oder, wie der Alte hier im Park, eine mächtige Kastanie. Mit diesem hier hatte Jorn sich angefreundet. Er kam oft vorbei, meist am späten Abend oder in der Nacht, und redete stundenlang mit seinem Freund. Jorn mochte die vielen Geschichten, die der über 100 Jahre alte Baum zu erzählen hatte. Die Kastanie hatte die Stadt noch erlebt, als sie jung und kraftvoll gewesen war. Jeder beginnende Tag, so hatte es der Alte berichtet, war damals ein Aufbruch in eine verheißungsvolle Zukunft gewesen. Jorn träumte oft davon, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er damals schon gelebt. Sicher wäre es ihm und seinen Eltern gutgegangen. Sein Vater hätte Arbeit hier in der Stadt gefunden und hätte ihn und seine Mutter nicht verlassen müssen. Dann wären sie immer noch eine Familie und seine Mutter würde ihre Tage nicht damit verbringen, sich in der Gesellschaft ständig wechselnder Männer zu betrinken.
Er hasste diese Kerle, die sich immer wieder in ihrer kleinen Wohnung einnisteten und von ihren wenigen Lebensmittel-Punkten lebten. Wenn es seine Mutter länger als drei Tage mit einem von ihnen aushielt, sollte Jorn den Mann immer ‚Onkel‘ nennen. Onkel Jonas, Onkel Kevin, Onkel Peter, Onkel Ahmed, Onkel Nikolai oder wie auch immer. Er tat es nie. Nie sprach er mehr als ein oder zwei Worte mit den Kerlen. Lieber floh er aus der zugedampften, nach Bier und Männern stinkenden Wohnung und wanderte allein durch die Stadt. In den alten, verwahrlosten Parks und auf den Brachflächen, die wie Krebs im Stadtkörper wucherten, suchte er nach Bäumen, die bereit waren, mit ihm zu reden. Sonst hatte Jorn keine Freunde. Seine Klassenkameraden – und seine Lehrer – hielten ihn für verrückt.
Jorn schmiegte sich noch enger an den rauen, schartigen Stamm der Kastanie. Der Alte war in den letzten Monaten zu seinem allerbesten Freund geworden. Jorn strich sanft mit seinen Finger über eine alte Narbe in der Rinde. „Fuck Kira!!!“ hatte jemand grob und unbeholfen in die Borke geritzt. Plötzlich traten Jorn Tränen in die Augen. Unwillig wischte er sie mit einem Ärmel weg.
„Sie… meine Mutter, sie will umziehen. In eine der Kuppelstädte. Da gibt es weniger Grün als auf dem Mond!“ Er hasste es, zu heulen, konnte aber nichts dagegen tun. Auch vorhin, als er von ihren Plänen erfahren hatte, waren ihm die Tränen gekommen. Natürlich hatte seine Mutter ihm nichts davon gesagt, dass sie wegziehen würden. Sie hatte sich noch nie getraut, ihm etwas Unangenehmes zu sagen. Jorn hatte es herausgefunden, weil er sie und ihren aktuellen Liebhaber, ‚Onkel‘ Victor, belauscht hatte, nachdem die beiden ihr betrunkenes Liebesspiel auf der Couch in der Wohnküche endlich beendet hatten. Er hatte in seinem winzigen, dreckigen Kinderzimmer auf dem mittlerweile viel zu kurzen Bett gelegen und versucht, die Geräusche zu ignorieren, die die beiden dabei gemacht hatten. Als seine Mutter und Victor sich danach leise unterhielten, hatte Jorn das Wort ‚Kuppel‘ aufgeschnappt. Er war leise in den Flur geschlichen und hatte sein Ohr an das Schlüsselloch der Wohnzimmertür gepresst.
„Ich kann dich da reinbringen“, hatte ‚Onkel’ Victor behauptet. Er war ein übergewichtiger, haariger Kerl mit einer unangenehm lauten Stimme. „Wenn man die richtigen Leute kennt, ist das kein Problem, Becky.“
„Du redest doch Scheiß, Victor.“ Die Stimme seiner Mutter hatte diesen leiernden Ton gehabt, an dem Jorn immer hörte, dass sie sehr betrunken war. „Du kennst nicht echt einen in der Kuppel.“
„Oh, doch. Und ich krieg‘ dich da rein, kein Problem. Dich und den Jungen.“
„Wirklich? Das würdest du für mich machen? Scheiße, wenn das klappt…“
Jorn hörte, dass die beiden sich bewegten, und dann seufzte Victor.
„Das klappt, Becky. Das klappt! Aber das wird was kosten, das sollte dir klar sein. Du wirst da drin arbeiten müssen. Du und der Junge, ihr werdet beide arbeiten müssen. Das muss dir klar sein, okay?“
„Scheiße, ja! Klar ist mir das klar.“ Die Stimme seiner Mutter hatte aufgeregt geklungen. „Ich will ja arbeiten, Winston, unbedingt. Hauptsache wir kommen hier raus, aus diesem Drecksloch von einer Stadt.“
„Der Junge wird auch ran müssen, Becky. Er wird da drinnen nicht mehr zur Schule gehen, sondern er wird arbeiten müssen. Das muss dir klar sein, okay?“
„Das ist okay, Winston, wirklich. Jorn hasst die Schule. Das ist okay, wirklich.“ Seine Mutter hatte einen Moment geschwiegen und wieder hatte Jorn gehört, wie die beiden sich bewegten. „Was meinst du, wann kriegst du uns da rein? In die Kuppel?“, hatte sie dann gefragt.
„Bald schon. Ganz bald schon.“ Winston hatte wieder geseufzt. „Ja, genau so! Oh, Scheiße, ja! Mach so weiter, Süße! Genau so…“
Jorn war leise aus der Wohnung abgehauen und hatte sich fest vorgenommen, niemals dorthin zurückzukehren. Er wollte nicht in eine Kuppelstadt ziehen, auf keinen Fall. Natürlich sah seine Mutter das anders. Sie zog gern und oft um, wenn bisher auch immer innerhalb der Stadt. Mittlerweile vermutete Jorn, dass sie, wie viele unglückliche Menschen, nur versuchte, ihren Problemen davonzulaufen. Die warteten jedoch immer schon in der neuen Wohnung, wenn sie ihre Plastiktüten und Pappkartons dort auspackte. In den letzten zehn Jahren waren er und seine Mutter acht Mal umgezogen, allein fünf Mal, seitdem er zur Schule ging. Auch deswegen hatte er nie Freunde gefunden. Bevor er jemanden richtig kennenlernen konnte, wollte seine Mutter meist schon wieder weg.
Zum Glück hatte Jorn die Bäume für sich entdeckt, Bäume wie diese wundervolle, alte Kastanie im alten Stadtpark, der nur eine halbe Stunde von ihrem Wohnturm entfernt lag. Und nun sollte er auch diesen Freund wieder verlieren, für immer. Aus einer Kuppelstadt kam man nicht mehr heraus, nicht als einfacher und wahrscheinlich illegal eingeschleuster Arbeiter. Jorn verfiel in haltloses Schluchzen und krallte seine Finger in die raue Rinde, während ihm Tränen über das von Trauer und Wut verzerrte Gesicht liefen.
„Ich gehe nicht mit. Diesmal nicht!“, rief er zornig. „Soll sie doch allein in ihre Scheiß-Kuppel ziehen! Ohne mich! Niemals!“ Der Junge stieß einen Schrei aus, in dem sich Wut und Schmerz vermischten. „Ich werde dich nicht verlassen“, schluchzte er schließlich und presste seine Stirn an die kühle, schroffe Rinde.
„Na, na!“ Die ruhige Stimme der Kastanie drang tief und rumpelnd, wie ein schwaches Erdbeben, aus den Tiefen des Baumstamms und hallte durch Jorns Kopf. „Nur die Ruhe, junger Mensch.“
„Du hast gut reden“, schluchzte Jorn. „Du musst ja auch nicht ständig umziehen.“
„Nun, einmal bin ich wirklich 'umgezogen'.“ Der Baum lachte sein grummelndes Baum-Lachen, dessen Vibrationen Jorn bis hinein in die Magengrube zu spüren meinte. „Als sie mich von der Schonung, wo ich gekeimt bin, hierher verpflanzt haben. Damals war ich noch fast ein Schössling, nicht einmal so alt wie Du es heute bist, junger Mensch.“
Jorn schniefte und musste gegen seinen Willen lächeln, als er das rumpelnde Lachen der alten Kastanie hörte. Das ging ihm immer so. „Jedenfalls gehe ich diesmal nicht mit”, sagte er bestimmt. „Eine Kuppelstadt, verdammter Mist! Was soll ich in einer Kuppel? Nein, diesmal nicht.“ Jorn atmete tief durch. „Lass…“, er räusperte sich. „Lass uns von hier abhauen, ja? Wir beide. Zusammen.“
„Oho!“, sagte der Baum überrascht. „Und wo gehen wir hin, junger Mensch?“
Jorn war froh, dass der Baum seinen Vorschlag nicht rundheraus abgelehnt hatte und erläuterte eifrig seinen Plan, den er sich zurechtgelegt hatte. „Wir gehen in das EU-Protektorat! Das ist ein riesiger Wald, der keine zwanzig Kilometer westlich von hier liegt. Da gibt es tausende und abertausende von Bäumen und jede Menge Wasser. Da sind wir sicher, weil es ein Naturschutzgebiet ist. Wir können da beide leben. Du schlägst dort Wurzeln, in einem sauberen, weichen Boden, und ich lebe von Beeren und Nüssen!" Jorn grinste. Von Beeren und Nüssen hatte er in einem alten Buch gelesen. "Was meinst Du?“, fragte er dann leise.
„Nun“, brummte der Baum und machte eine lange Pause, was aber für ein so altes und in sich ruhendes Lebewesen keine Seltenheit war. In ihren Gesprächen schwieg die Kastanie oft minutenlang, um dann einfach weiterzureden, als hätte es überhaupt keine Unterbrechung gegeben. „Das hört sich interessant an. Naturschutzgebiet, sagst Du, heißt dieser Wald?“
„Ja“, bestätigte Jorn eifrig. In der Tiefe seines Herzens wusste er, dass er zu viel von dem alten Baum verlangte. Würde denn er selbst, wären die Rollen vertauscht, seinen Wohnort von 100 Jahren verlassen, nur um mit einem Jungen davonzulaufen, den er kaum ein halbes Jahr lang kannte? Jorn konnte es nicht sagen.
„Hmmm…“, brummte der Baum. „Und was ist mit Deiner Mutter? Sie wird Dich doch sicher vermissen, meinst Du nicht?“
Jorn lachte bitter auf. „Nein, wird sie nicht. Im Gegenteil. Die wird froh sein, wenn ich endlich weg bin. Dann braucht sie sich nur noch mit ihren Kerlen abzugeben. Sie…“, er stockte und schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter, der sich mit einem Mal gebildet hatte. „Sie liebt mich nicht mehr.“
„Hmmm…“, brummte der Baum wieder und verstummte dann.
Nach zwei, drei Minuten des Wartens gab Jorn jede Hoffnung auf. Die Kastanie würde nicht mitkommen und allein… wieso sollte er allein weglaufen? Und wohin? Er würde zu seiner Mutter zurückgehen und als Illegaler irgendwo in den sterilen und leblosen Eingeweiden der Kuppelstadt hausen. Bittere Tränen stiegen Jorn erneut in die Augen und er löste sich von dem uralten Baum.
„Schon okay“, sagte er leise und tätschelte die Rinde. „Ich kann verstehen, dass Du hier nicht weg willst.“ Jorn schniefte. „Ich werde Dich nie vergessen, hörst Du? Leb' wohl.“ Er wartete einen Moment, aber als der Baum nichts sagte, verglühte der letzte Funke Hoffnung in seinem Herzen und er wandte sich mit bleischweren Beinen zum Gehen.
„Mit wem quatscht du da eigentlich, du Spinner?“
Jorn keuchte entsetzt auf, als er den hageren, bärtigen Mann bemerkte, der am Geländer der Steinbrücke lehnte. Er trug eine zerrissene, schmutzstarrende Militärjacke und hatte ein dünnes, langes Messer in der Hand. Er hielt es mit der Rechten an der glänzenden Klinge und reinigte sich mit der Spitze die langen, ungepflegten Fingernägel. Strähnen ungewaschener, grauer Haare hingen ihm ins Gesicht. Jorn sah trotzdem den purpurroten Ausschlag auf der Stirn und den eingefallenen Wangen, der zeigte, dass der Kerl ein FLAC-Junkie war, ein Drogenabhängiger der übelsten Sorte. Jedes Kind wusste, dass man sich von FLACs fernhalten musste. Jorn wollte losrennen, da hörte er eine weitere Stimme, direkt hinter ihm.
„Der Kleine is’n Freak.“
Jorn hatte eine Gänsehaut auf dem ganzen Rücken, als er sich langsam umdrehte. Keine zwei Schritte hinter ihm stand ein weiterer Junkie, ebenfalls mager und abgewrackt, mit knallroten Pusteln im Gesicht. Der Typ hielt kein Messer in der Hand, sondern einem kleinen, gefährlich aussehenden Stunner.
„Aber er ist hübsch“, erwiderte der Mann auf der Brücke und ließ sein Messer mit einer Handbewegung in seiner Jacke verschwinden. Mit rot unterlaufenen Augen sah er Jorn an. „Du willst nicht in eine Kuppel, wenn du die Chance dazu hast, Junge? Dann bist du echt verrückt.“ Der Junkie lächelte und entblößte ein paar gelbe, wenige Zähne. „Aber Donk und ich werden dir helfen, Kleiner.“ Er kam langsam auf den vor Angst erstarrten Jorn zu.
„Ja, du kannst bei uns wohnen.“ Der andere, Donk, kicherte leise. „Wir haben eine schöne, kleine Bude, wir zwei. Gar nicht weit von hier.“ Schwer wie ein Stein legte sich eine Hand auf Jorns Schulter. „Wenn deine Mama dich nicht lieb hat, Süßer, dann werden wir dich eben liebhaben.“
„Ich… ich…“, stammelte der Junge. Sein Gehirn schien vor lauter Panik nicht mehr arbeiten zu wollen.
„Dann musst du nicht mehr mit einem alten Baum kuscheln. Wir kuscheln ab jetzt mit dir.“
Nun standen die beiden Männer ganz dicht bei ihm. Jorn konnte kaum mehr atmen, bei dem fauligen Gestank, den die schwärenden Wunden auf ihren Gesichtern verströmten. Er wusste, dass er verloren war. Einem Stunner konnte er nicht entkommen, egal, wie schnell er rannte. Ein letztes Mal sah Jorn zu der alten Kastanie hin und bekam immer noch kein Wort heraus, als die beiden Junkies ihn über den runden Platz zu der alten Steinbrücke führten.
Plötzlich begann der Boden zu beben. Ein krachendes Ächzen und Reißen ertönte und das uralte Pflaster des Platzes brach um sie herum auf.
„Was zur Hölle…!“, schrie der grauhaarige Junkie und fuhr herum. Sein Messer war wieder in seiner Hand. Auch Jorn wandte sich um und schrie entsetzt auf. Einen schrecklichen Moment lang schien es ihm, als würde die Kastanie, sein uralter Freund, wie von einer unsichtbaren Axt gefällt zu Boden stürzen. Doch dann fing sich der riesige Baum, fand sein Gleichgewicht wieder und riss ächzend nacheinander seine vier jeweils mehrere Meter breiten Wurzelfüße aus dem Boden. Erde, Pflastersteine und Teile der alten Holzbank flogen durch die Luft und regneten auf Jorn und die beiden Männer herab, die fluchend hinter einem der Pfeiler der Steinbrücke Deckung suchten.
Die riesige alte Kastanie schüttelte schließlich mit einem grollenden Lachen ihre belaubte Krone. Ringsum prasselten Kastanien und trockene Blätter wie in einem Hagelschauer auf den Boden. Wo der Baum über 100 Jahre lang gestanden hatte, klaffte nun ein mehrere Meter tiefes und breites Loch in der Erde.
„Dein Vorschlag gefällt mir, junger Mensch. Brechen wir auf!“, sagte der Alte mit seiner tiefen Stimme, als wäre ihre Unterhaltung nie unterbrochen gewesen.
Jorn sah, dass der eine Junkie, Donk, die sprechende Kastanie fassungslos und mit offenem Mund anstarrte. Dann jedoch schien er sich zu besinnen und richtete seinen Stunner auf den Baum.
„Pass auf!“, rief der Junge mit schriller Stimme, aber da surrten auch schon dutzende kleiner Betäubungspfeile aus dem Lauf der Waffe und bohrten sich tief in die Rinde der Kastanie.
Der alte Baum schielte an sich herunter, so gut es ihm gelang. „Sind das Freunde von dir, junger Mensch?“, fragte er dann langsam, während er raschelnd einen seiner Ast-Arme beugte. Mit spitzen Zweigen pulte er, einen nach dem anderen, die winzigen Pfeile aus seiner Borke. Das Betäubungsmittel schien nicht die geringste Wirkung auf ihn zu haben.
„Nein!“, rief Jorn und rannte zu seinem Freund. Er suchte Deckung hinter dem breiten Stamm. „Nein, das sind böse Männer! Sie… sie wollten mich entführen.“
„Oho“, brummte die Kastanie und sah hinab auf die beiden kauernden Gestalten. „Dann sind sie also Schädlinge“, sagte er und seine Stimme wurde dabei so tief und laut, dass kleine Steinchen auf dem Boden zu tanzen anfingen. Als der riesige Baum einen stampfenden Schritt nach vorn machte, schrien die beiden Männer panisch auf. Mit wilden Sprüngen nahmen sie Reißaus und verschwanden heulend und zeternd in der Dunkelheit.
„Ich… danke!“, sagte der Junge überwältigt. „Du hast mir das Leben gerettet.“
„Tatsächlich?“ Der Baum brummte nachdenklich. Dann sah er sich um. Wieder fielen Kastanien auf Jorn, der lachend die Hände über den Kopf hielt.
„In welche Richtung gehen wir, junger Mensch?“, fragte der Alte. „Sagtest du, der Wald liegt im Westen?“ Mit einer knorrigen Ast-Hand deutete der Baum in die Himmelsrichtung.
„Ja, im Westen“, bestätigte Jorn grinsend. Dann machte er sich gemeinsam mit seinem Baumfreund auf den Weg.
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