Peter Malek war ein ängstlicher Mann.
Sein wenig aufregender Beruf als Buchhalter in einer mittelgroßen Firma, die Dichtungsringe für Badezimmerarmaturen herstellte, kam ihm daher sehr zupass. Aus dem gleichen Grund hatte er zeitlebens bewusst auf die Aufregung verzichtet, die ein – wie auch immer geartetes – Liebesverhältnis zwangsläufig mit sich gebracht hätte. Obgleich Peter diesen speziellen Entschluss, den er im Alter von 14 Jahren getroffen hatte, niemals öffentlich gemacht hatte, schien er sich in der Damenwelt dennoch wie ein Lauffeuer verbreitet zu haben. Er kam nie in die Verlegenheit, auch nur eine einzige liebeshungrige Verehrerin abwimmeln zu müssen. Tatsächlich schienen die Frauen der Welt sich untereinander darauf verständigt zu haben, seine Existenz nach Kräften zu ignorieren, was Peter gleichmütig und mit einem leichten Gefühl der Dankbarkeit hinzunehmen versuchte.
Sein Leben beschränkte sich darauf, seine Arbeit zu machen, einmal die Woche einkaufen zu gehen, Bücher zu lesen (nichts allzu spannendes allerdings) und gegen sich selbst Brettspiele zu spielen. Letzteres entsprach nicht wirklich seinen Wunsch, ließ sich aber mangels Freunden oder Bekannten, mit denen er hätte spielen können, nicht anders realisieren. Also würfelte Peter an seinen Spieleabenden immer abwechselnd für jeden der überwiegend imaginären Spieler und freute sich, wenn er gegen sich selbst gewann.
Zeigte die große Wanduhr im Wohnzimmer 22 Uhr an, ging Peter ins Bett. So hielt er es an jedem Tag in der Woche, auch am Wochenende. Beinahe jeden Abend schlief er schnell und einigermaßen zufrieden mit sich und seinem Leben ein, um am nächsten Morgen um 5:30 Uhr wieder aufzuwachen, sich zu duschen, zur Arbeit zu gehen und so weiter und so fort. Am Samstag und am Sonntag stand er erst um 6:30 Uhr auf und ließ sich Zeit mit dem Frühstück. Er las in Ruhe seine Zeitung und ging nach dem Mittagessen genau zwei Stunden lang spazieren. Dabei ging er immer die gleiche Runde: Durch den Park, hinunter zum Fluss und über den Schlossplatz wieder zurück. Um 17 Uhr trank er Tee, aß um 20 Uhr zu Abend und ging, wie sonst auch um 22 Uhr zu Bett. Diese ruhige, gleichförmige Existenz führte Peter Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr fort, bis er eines Mittwochmorgens aufwachte – wie immer exakt drei Minuten, bevor der Wecker klingelte – und mit einem Blick auf den Kalender an der Wand feststellte, dass er an diesem Tag sein fünfzigstes Lebensjahr vollendet hatte.
Peter pflegte seine Geburtstage nicht übermäßig zu feiern, auch die runden Geburtstage nicht. Extravaganzen dieser Art lagen ihm fern. Auf der Arbeit wusste niemand, wann er Geburtstag hatte, und es hatte auch nie jemand gefragt. Zu seinem Dreißigsten hatte Peter sich nach der Arbeit zur Feier des Tages eine kleine, runde Torte beim Bäcker um die Ecke gekauft und erst zuhause festgestellt, dass die Füllung aus Kirschmarmelade bestand, die er nicht ausstehen konnte. Daher hatte er zu seinem Vierzigsten auf jegliche Experimente verzichtet.
Nun aber geschah, für Peters bis ins letzte geregelte Existenz, jedoch etwas Ungewöhnliches: Der Wecker klingelte, Peter stellte ihn aus - und blieb einfach liegen. Er sah hinauf zur Zimmerdecke und ihm ging immer wieder ein Gedanke durch den Kopf:
„50 Jahre sind ein halbes Jahrhundert. 50 Jahre sind ein halbes Jahrhundert…“
Um 7 Uhr stand Peter auf und ging ins Bad. Er erledigte, was erledigt werden musste, und legte sich wieder ins Bett. Rings um seine Wohnung erwachte das Haus langsam zum Leben. Über ihm erklangen Schritte auf dem Parkettboden, leichte, schnelle, und schwerere, langsamere. Das mussten Frau und Herr Walther sein, die sich für die Arbeit fertig machten. Um Punkt 8 Uhr verließen die beiden das Haus. Zwischenzeitlich wurden in anderen Wohnungen Türen geschlagen, Duschen und Toilettenspülungen rauschten, und ein Radio lief, gerade laut genug, dass Peter es hören konnte, ohne zu verstehen, was gesagt oder gespielt wurde. Der Verkehrslärm draußen schwoll zwischen 7:30 Uhr und 8:30 Uhr an, um dann langsam wieder nachzulassen.
Um 9 Uhr bekam Peter Hunger und stand auf. Er duschte, zog sich an wie immer (Cordhose, Hemd, Pullover, braune Lederschuhe und eine beige Jacke, wie sie auch sein Vater immer getragen hatte), steckte sein Portemonnaie ein, wobei er extra nachschaute, ob seine Scheckkarte drinnen steckte, schaltete das Licht aus, ging hinaus und verschloss die Tür hinter sich.
Wenn Peter frühmorgens zur Arbeit ging, trat er aus dem Haus und wandte sich nach links. Heute ging er nach rechts, ohne groß darüber nachzudenken. Er hatte immer noch Hunger und freute sich auf einen Kaffee. Als er an einer Bushaltestelle vorbei kam, blieb er stehen und las interessiert den Fahrplan. Er wartete vier Minuten, bis der Bus kam, stieg ein und kaufte sich eine Fahrkarte.
Fünfzehn Minuten später stieg Peter am Bahnhof wieder aus. Er schlenderte durch die Eingangshalle und blieb vor einem Fahrkartenautomaten stehen. Spielerisch tippte er auf dem Bildschirm herum, steckte an einer Stelle seine Scheckkarte in das Gerät und hielt kurz darauf ein Zugticket in der Hand. Damit schlenderte er zum Gleis, wartete erneut ein paar Minuten und stieg dann in den Zug, der vor ihm anhielt. Die Waggons waren nur spärlich besetzt. Peter ging langsam durch den Zug, bis er den Speisewagen fand. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte bei dem beflissen heraneilenden Kellner ein Käsebrötchen und eine Tasse Kaffee. Dann frühstückte er und sah dabei aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft.
Dreieinhalb Stunden später erreichte der Zug die Endstation und Peter stieg mit einigen wenigen anderen Fahrgästen aus. Er folgte einer Mutter, die mit zwei Kindern und drei Koffern unterwegs war, unauffällig zu einer Bushaltestelle und stieg mit den dreien gemeinsam in den Bus. Er half der Frau mit den Koffern, woraufhin sie ihn dankbar anlächelte. Peter lächelte zurück.
Er setzte sich ganz nach hinten in den Bus. Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Als Peter ausstieg, roch die Luft salzig und er hörte Möwen in der Luft kreischen. Während er langsam in Richtung Strand schlenderte, bemerkte er, dass die Mutter aus dem Zug mit ihren beiden Kindern stritt, die anscheinend unbedingt mit einem Karussell fahren wollten, das in der Nähe der Strandpromenade aufgebaut war. Nach einigem hin und her schien die Mutter einzuwilligen und die Kinder sprangen glücklich auf das Karussell. Peter sah ihnen aus der Entfernung einen Moment lang zu, dann ging er weiter. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er lächelte.
Der Sand fühlte sich kalt und feucht an unter seinen bloßen Füßen. Peter hatte seine Schuhe und seine Socken ausgezogen, als er den Strand erreicht hatte, und stapfte nun barfuß am Wellensaum entlang. Mit fünfzig Jahren war er zum ersten Mal am Meer und es gefiel ihm.
Nach einer halben Stunde erreichte er das Ende des Sandstrands und zog seine Schuhe wieder an. Wolken zogen über den Himmel und ohne die Sonne war der Wind kalt. In seiner dünnen Jacke fröstelte Peter, was ihn aber nicht davon abhielt, den Anstieg auf die weißen Klippen anzugehen. Er folgte einem schmalen, steilen Pfad hinauf und bald wurde ihm durch die Anstrengung wieder warm. Die Klippen hier waren, das hatte er gelesen, an die 100 Meter hoch.
Peter atmete schwer, als er endlich oben stand. Die Aussicht war herrlich. Er ging langsam den Pfad entlang, der über die Klippen führte und genoss den Ausblick auf das schiefergraue Meer. Wie gern hätte er in seinem Leben mehr von der Welt gesehen. Wie schön mochten andere, ferne Orte sein, wenn dieser hier schon so wundervoll war? Lächelnd ging Peter weiter. Er hatte sich eine Klippe zum Ziel gesetzt, die noch deutlich höher als die anderen über dem Meer aufragte. Der Trampelpfad, dem er folgte, führte ihn direkt dort hin. Plötzlich jedoch stand er vor einem Zaun, an dem ein grellgelbes Warnschild hing: „Elektrozaun! Vorsicht, Hochspannung!“, stand darauf. Der Zaun bestand aus dünnen Drähten, die an in die Erde getriebenen Stäben hingen. Selbst für sein in diesen Dingen ungeschultes Auge sah der Zaun wie ein Provisorium aus. Auf der anderen Seite, sah er, graste eine ganze Schafherde.
Während Peter darüber nachdachte, wie er nun zu der hohen Klippe kommen sollte, setzte ein leichter Nieselregen ein. Ihn fröstelte wieder. Schließlich fasste er einen Entschluss und griff nach einem der Draht-Enden, das am nächstgelegenen Zaunstab hing. Neben dem Haken aus Metall, mit dem der Draht befestigt war, befand sich eine Art Plastikgriff. Peter vermutete, dass er keinen elektrischen Schlag bekommen würde, wenn er den Draht dort anfasste. Er hakte den Haken aus, stieg über den unteren Draht und hängte den oberen wieder an den Stab. Dann ging er weiter, zwischen den Schafen hindurch, die ihn komplett ignorierten. Der Marsch über den weichen, von Minute zu Minute nasser werdenden Boden war anstrengend. Peter fror mittlerweile jämmerlich in seiner durchnässten Jacke und den mit Regenwasser vollgelaufenen Schuhen.
Endlich erreichte er den Fuß der höchsten Klippe und nahm den Aufstieg in Angriff. Mehrmals rutschte er auf dem nassen Gras aus und schlug der Länge nach hin. Seine Hände und seine Kleidung waren bald voller Matschflecken. Keuchend kämpfte Peter sich jedes Mal wieder auf die Füße und stapfte weiter den grasbewachsenen Abhang hinauf. Dann, endlich, stand er ganz oben auf der Klippe und blickte über das endlos weite Meer.
„50 Jahre“, sagte er, als sich sein Atem wieder beruhigt hatte. „Ein halbes Jahrhundert.“ Er beugte sich vor und sah direkt nach unten. Die heranrollenden Wellen, über 100 Meter unter ihm, zerbarsten donnernd und gischtspritzend an den weißen Felsen.
Peter richtete sich wieder auf und lächelte. Ruhig schloss er die Augen und breitete langsam seine Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen. Er atmete tief ein, dann wieder aus, und sammelte sich. Doch mit einem Mal fuhr er erschreckt auf und blickte nach unten. Ein großer, schwarz-weißer Hund drückte sich an seine Schienbeine und sah ihn aus seinen schwarzen, intelligenten Augen fragend an. Peter hatte immer schon Angst vor Hunden gehabt, daher hob er abwehrend die Hände. Schnell machte er einen und dann noch einen Schritt nach hinten, weg von dem Tier und vom Rand der Klippe.
„Sie brauchen keine Angst zu haben“, sagte eine raue, aber sanfte Stimme hinter ihm.
Peter wandte sich irritiert um und sah eine in einen dunkelgrünen Regenmantel gehüllte Gestalt hinter sich. Auf ihrem Kopf saß eine Art Regenhut in der gleichen Farbe. Dazu trug sie Jeans und schwarze Gummistiefel. Es dauerte einen Moment, bis er die Person als Frau erkannte.
„Jackson ist manchmal etwas aufdringlich, tut aber niemandem etwas“, sagte die wetterfest gekleidete Dame. „Er hat so eine Art Retter-Komplex. Er kann es nicht sehen, wenn jemand den Klippen zu nahe kommt.“ Der Hund kam zu ihr, als er seinen Namen hörte. Sie streichelte sein nasses Fell. Dann blickte sie wieder Peter an. Er sah, dass sie nicht mehr ganz jung war und ihre Augen eine grüne Farbe hatten. „Jackson wird Sie nicht einfach springen lassen, wissen Sie? Nicht hier und nicht unter seiner Aufsicht. Nicht, wenn er es verhindern kann.“ Sie sagte es ganz ruhig und ohne den geringsten Vorwurf in ihrer sanften Stimme.
„Ich… ich wollte nicht…“, brachte Peter stockend heraus.
Die Frau lächelte. „Mein Name ist Angela. Wie heißen Sie?“
„Peter.“
„Nun, Peter, ich habe dahinten einen kleinen Wohnwagen. In dem lebe ich, wenn ich mit meinen Schafen unterwegs bin. Da drinnen ist es warm und trocken und ich habe gerade eine Kanne Tee aufgesetzt.“ Mehr sagte sie nicht, sondern wandte sich langsam um und ging zu einem grauen Wohnwagen, der in einer Senke in der Nähe des Fußes der großen Klippe stand. Auf dem Hinweg war er Peter nicht aufgefallen.
„Wenn Sie sich aufwärmen wollen, sind Sie herzlich willkommen“, rief die Frau, ohne sich umzudrehen. „Ich bin eine gute Zuhörerin, falls Sie reden möchten. Jackson hier hat sich jedenfalls noch nie beschwert.“
Peter sah ihr nach, wandte sich dann wieder um und schaute lange zum Rand der Klippe, von der er sich ein paar Schritte entfernt hatte. Dahinter sah er das Meer, grau und kalt wie eine Grabplatte. Peter fröstelte.
„Fünfzig Jahre sind ein halbes Jahrhundert“, flüsterte er und setzte sich in Bewegung. Erst langsam, dann immer schneller werdend, eilte er Angela und Jackson hinterher, die an der offenen Tür des Wohnwagens standen und auf ihn warteten.
E N D E
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